Triggerwarnung emotional belastende Erlebnisse, psychische und physische Gewalt durch die Polizei.
Vor genau einem Jahr erlebten wir eine neue Stufe des Autoritarismus, der Faschisierung und der ungebremsten Gewalt der Polizei. 11 Stunden lang wurden ca. 1300 Menschen gegen ihren Willen festgehalten, wie Dreck behandelt und ihnen wurden Grund- und Menschenrechte verwehrt.
Im Anschluss, ebenfalls vor genau einem Jahr, sprach sich Burkhard Jung, unser allseits beliebter SPD-Oberbürgermeister, lautstark gegen die Zitat “vollkommen durchgeknallten Straffälligen in Connewitz” aus. Nicht nur, dass er anscheinend den Unterschied zwischen Connewitz und der Südvorstadt nicht kennt und damit wahrscheinlich mal wieder die Sprache von BILD-Zeitung und Co. übernehmen wollte. Auch meint er mit den “vollkommen durchgeknallten Straffälligen” gar nicht die Polizei – sondern die Antifaschist*innen, die für ihre Rechte und gegen den ungebremsten Faschismus auf die Straße gehen! Da wüten hochgerüstete Cops stundenlang durch die Stadt und blockieren, brüllen, drangsalieren, schikanieren, schlagen, treten, pfeffern, unterdrücken – und der liebe OBM schafft es nicht ein einziges mal, dies als Gewalt zu benennen. Diese Gewalt, die dazu dient, die legitime und notwendige Solidarisierung mit der Antifaschistin Lina zu verhindern. Wenn es nach dem OBM ginge, würden Antifaschismus und Aktivismus gegen Rechts am besten Folgendermaßen aussehen: Ja wie eigentlich? Wir bitten die gewaltbereiten Neonazis einfach, dass sie keine Jagd mehr auf Menschen mit Migrationshintergrund, Queers, BIPOCs oder Linke machen? Oder noch besser – wir verlassen uns auf die Polizei, dass die sich darum schon kümmern werden, einer Polizei, die selbst von rechtsradikalen Einstellungen nur so trieft? Und sonst gehen wir einfach alle paar Jahre mal wählen und hoffen, dass genau solche Leute wie der OBM das schon richten werden? Wir brauchen keine bürgerlichen Parteinasen wie Burkhard Jung, die bei jeder Gelegenheit die Schergen in Blau stützen und decken, legitimen Antifaschismus in den Rücken fallen und gleichzeitig über die sogenannten Demos gegen Rechts ihr vermeintlich linkes Image aufpolieren wollen. Ebenso brauchen wir keine Gesinnungsjustiz, die jedes Fehlverhalten der Polizei entschuldigt und Tag für Tag und Demo für Demo Antifaschist*innen vor Gericht und in den Knast bringt. Denn was der Tag X und der Leipziger Kessel wieder einmal bewiesen haben, ist, dass Staat, Polizei und Justiz den bitter notwendigen antifaschistischen Kampf um jeden Preis verhindern wollen – mit dem Knüppel auf der Straße und dem Hammer im Gericht.
Es darf nicht sein, dass Menschen Angst haben, sich frei durch die Stadt zu bewegen, weil sie von den Cops als “links” gelesen werden könnten.
Es darf nicht sein, dass sie stundenlang gegen ihren Willen festgehalten werden.
Es darf nicht sein, dass ihnen der Zugang zu Nahrung, Trinken, Wärmedecken und die Toilettengänge verweigert werden.
Es darf nicht sein, dass die Meinungs-, Demonstrations und Pressefreiheit unterdrückt werden.
Es darf nicht sein, dass Demosanitäter*innen daran gehindert werden, zu Demos zu gelangen und ihre Arbeit zu machen.
Es darf nicht sein, dass Kontrollbereiche ausgerufen werden, um Linke zu markieren und zu schikanieren.
Es darf nicht sein, dass Anreiseverbote ausgesprochen werden, um so die legitime Meinungsäußerung zu verhindern.
Es darf nicht sein, dass die Polizei mit Wasserwerfern, Räumpanzern, Helikoptern, Kameras, Mikrophonen, Helmen, Panzerungen, Schildern, Schlagstöcken, Pfefferspray, Hunden und tausenden von uniformierten Schlägern die Stadt unsicher machen.
Und: es darf nicht sein, dass solche Ausnahmezustände normalisiert werden!
Wir sagen: Kein Bulle hat das Recht, physische und psychische Gewalt gegenüber anderen auszuführen – und unbescholten davonzukommen.
Im Folgenden wollen wir euch einen Einblick in die brutale Praxis der Polizei geben:
In den frühen Morgenstunden, also in den letzten 2-3 Stunden des Kessels, haben Gruppen hochgerüsteter Cops angefangen, um den Kessel herumzuschleichen. Immer dabei die Kamera, die mit angeheftetem Leuchtstrahler voll in die Menge hielt. Dann wurde irgendwann Halt gemacht. Es wurde sich hinter vorgehaltener Hand zugeflüstert, anschließend wurde mit ausgestrecktem Zeigefinger auf eine Person in der Menge gezeigt. Und dann ging’s los. Die Cops prügelten sich unter Einsatz von Schlagstöcken und Fäusten den Weg frei zur ausgesuchten Person. Die solidarischen Menschen in den ersten Reihen versuchten, den Angriff durch Menschenketten zu verhindern, aber keine Chance. Mit brutalster Gewalt verschafften sich die gepanzerten Bullen Zugang zu der Person und zerrten sie heraus. Als wäre es nach stundenlangem Ausharren unter den menschenunwürdigsten Verhältnissen nicht genug. Nein, zum Schluss wollte die staatliche Macht nochmal ihr hässliches Exempel statuieren. Denn dieses Vorgehen wurde immer und immer wieder wiederholt. Es wurde herumgeschlichen, geflüstert, mit dem Finger gezeigt und herausgeprügelt. Herumgeschlichen, geflüstert, mit dem Finger gezeigt und herausgeprügelt. Was vielen in diesem Moment wahrscheinlich durch den Kopf ging war: “Bin ich die nächste Person? Ist es meine Genossin? Wieso werden diese Leute ausgesucht? Wann ist das endlich vorbei? Kommt hier irgendwer ohne ID-Behandlung raus?”. Je länger die Brutalitäten anhielten, desto größer wurden Zweifel und die Angst. “Werden die Leute einfach zufällig rausgezogen? Macht das den Cops vielleicht einfach nur Spaß? Was ist der Sinn dahinter?”. Letztendlich dämmerte es den letzten Verbliebenen: Es gibt hier kein Rauskommen ohne ID-Behandlung. Es stellte sich nur noch die Frage, ob mit physischer oder ohne physische Gewalt. Und so wurden Schlangen gebildet, um zwar nicht herausgezerrt, aber trotzdem nach und nach durch die ID-Behandlungsstraßen gezwungen zu werden. Es wurden Fotos gemacht, Daten aufgenommen, Handys abgenommen und dann wurden diese Menschen, welche sich für eine progressive Welt ohne Faschismus einsetzen, in den Morgen entlassen.
Diese Erfahrungen hinterlassen Wunden – für viele war der Kessel ein traumatisches Erlebnis. Und das wissen die Herrschenden. Sie versuchen, uns durch solche Praktiken zu zerstreuen, zu vereinzeln, zu brechen. Und kurzzeitig mag das auch funktionieren und es wird Angst und Unsicherheit ausgelöst. Die Repression hinterlässt Spuren: die Gewalt gegen unsere Körper, uns als Person, gegen unsere politischen Überzeugungen, sexualisierte Gewalt sogar gegen Minderjährige, Beleidigungen und Erniedrigungen, das Vorenthalten elementarer Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken, Kleidung, Decken, Toilettengänge, Schlafen; die Angst vor einem langen, kostenintensiven und existenzgefährdenen Prozess; die Eintragung in polizeiliche Datenbanken, die Kriminalisierung von Linkssein: all das sind Taktiken zur Einschüchterung und Abschreckung. Aber was viel größer und stärker ist als das, ist der Zusammenhalt, der genau in solchen Situationen sichtbar wird. Wir bilden Strukturen, sammeln Geld, machen aufmerksam, nehmen uns in den Arm, machen uns Mut, wir veranstalten Soli-Konzerte und -Küfas und: wir lernen daraus. Und auch wenn es unfassbar schmerzhaft ist – wir lassen uns davon nicht klein kriegen.
Am Ende, nach stundenlanger Freiheitsberaubung und Gewalt, standen da Antifaschist*innen und Antikapitalist*innen Seite an Seite im Kessel und brüllten “Alerta!”. Auch wenn sich diese Menschen in politischen Fragen nicht immer einig sind, so vereint sie doch der gemeinsame Feind: die Nazis und ihre Freunde in Blau, welche sich wieder einmal als verlängerter Arm von Staat, Kapital und Faschismus nützlich gemacht haben.
Und was ebenfalls größer ist als die Angst, Unsicherheit und Verzweiflung, ist die Wut. Die Wut gibt uns Kraft, uns nach solchen Rückschlägen zusammenzufinden, Anlauf zu nehmen und noch stärker zurückzukommen. Und gerade im Anblick der kommenden Landtags- und Europawahlen brauchen wir diese Kraft dringender denn je. Besonders jetzt heißt es: seid laut, seid wütend, bringt euch ein und organisiert euch! Egal ob du selbst direkt betroffen bist oder deine Mitbewohner*in geknüppelt wurde, nimm die Wut und lass sie als Antrieb dienen, um dich mit anderen zusammenzuschließen und aktiv zu werden. Wir müssen gemeinsam überlegen was es heißt, sich vor Staat und Faschismus zu schützen. Denn es werden immer mehr staatliche Ressourcen eingesetzt, um uns ausfindig zu machen, zu überwachen und zu bestrafen. Uns in permanenter Angst zu halten und anzugreifen.
Zudem müssen wir eigene Mechanismen zur Konfliktlösung entgegensetzen und Freiräume schaffen. Die Polizei ist kein Freund & Helfer und erst Recht kein Konflikt- und Problemlöser. Alternativen für Sicherheit und Gerechtigkeit sind dringender denn je. Lasst uns gemeinsam Ideen entwickeln, wie wir auf Gewalttaten reagieren und auf uns gegenseitig aufpassen können. Lasst uns ernsthaft über Schutzkonzepte unserer Gruppen, Kollektive, Nachbarschaften, Orte und Veranstaltungen diskutieren. Die Polizei und den Verfassungsschutz, Institutionen, die selbst in nationalsozialistischer Kontinuität stehen, abzuschaffen, Nationalstaaten und Kapitalismus zu überwinden, muss mit dem Kampf gegen Faschismus einhergehen, da diese Systeme sich gegenseitig erhalten. Und dieser Kampf muss international, feministisch und antirassistisch sein.
Trotz alledem stark zu bleiben, weiter zu machen, die Hoffnung angesichts der starken faschistischen Tendenz, sozialer Ungleichheit, patriarchaler Unterdrückung und Klimakatastrophe nicht zu verlieren, erscheint immer schwerer. Aber wir haben keine Wahl, wenn wir ein Leben in Freiheit, Frieden, Sicherheit und Gleichwertigkeit führen wollen. Es bleibt uns nur die Leidenschaft, Hoffnung und Solidarität.
Alerta! Free Lina! Free All Antifas!